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Folge 238 Wechsel - Erstbehörde bleibt vorläufig leistungspflichtig

Ein Betreuter verliert seine Leistungen, weil Sozialamt und Jobcenter sich über die Zuständigkeit streiten. Das Sozialgericht Lüneburg entscheidet eindeutig: Existenzsichernde Leistungen dürfen nicht unterbrochen werden. Der erstangegangene Träger zahlt weiter, muss den Antrag weiterleiten und die Erwerbsminderung prüfen. Die Folge erklärt den Fall, die Rechtslage und die praktischen Konsequenzen für Betreuer.

In dieser Woche schauen wir auf eine Entscheidung des Sozialgerichts Lüneburg aus 04 2025. Es geht um die zentrale Frage, wer zuständig ist, wenn die Leistungsträger sich nicht einig sind. Wer muss zahlen, wenn unklar ist, ob das Jobcenter oder das Sozialamt verantwortlich ist. Der Kernpunkt der Entscheidung ist eindeutig: Existenzsichernde Leistungen dürfen nicht unterbrochen werden. Auch dann nicht, wenn sich zwei Träger darüber streiten, wer zuständig ist. Der Betroffene darf nicht in die Lücke fallen. Die Behörden müssen diese Fragen untereinander klären.


Das Urteil ist ein starkes Werkzeug für die Praxis. Besonders für Situationen, in denen die erstangegangene Behörde versucht, sich herauszuziehen, indem sie auf vermeintliche Zuständigkeitsprobleme verweist. Die Frage, wer zahlen muss, stellt sich häufig bei unklaren Konstellationen. Sobald der Verdacht im Raum steht, eine Person könnte erwerbsfähig sein, neigen einige Träger dazu, die Zahlung sofort einzustellen. Genau das ist rechtswidrig. Der erstangegangene Träger oder der zweite Träger muss vorläufig zahlen. Wenn nicht gezahlt wird, bleiben Miete, Strom und Lebensunterhalt ungesichert. Der Betreute sitzt im Chaos, während die Behörden ihre Zuständigkeitsdebatten führen. Dieses Urteil macht klar, dass das so nicht laufen darf und zeigt, wie man dagegen vorgeht.


Typische Fehlannahmen, die viele Sachbearbeitende haben, lauten: „Wir sind unzuständig, das Jobcenter muss prüfen.“ Das mag verwaltungstechnisch nachvollziehbar sein, ist aber kein Argument gegen die Zahlung. Ein weiterer Irrtum lautet: „Solange die Erwerbsfähigkeit ungeklärt ist, zahlen wir nicht.“ Auch das ist falsch. Die Weiterleitung von Anträgen ist verpflichtend nach § 16 SGB I. Einige behaupten, Weiterleitung sei optional. Das ist nicht zutreffend. Ebenso falsch ist die Aussage: „Wenn alles geklärt ist, zahlen wir wieder.“ Viele von euch werden solche Sätze bereits gehört haben. Richtig ist: Die Träger müssen zunächst zahlen. Erst danach klären sie die Zuständigkeit intern. Eventuelle Erstattungen regeln die Träger untereinander. Das Sozialgericht spricht diese Fehler ausdrücklich an.


Der konkrete Fall: Der Antragsteller ist schwerbehindert. Er hat eine wesentliche geistige Behinderung, ein fetales Alkoholsyndrom und deutliche Einschränkungen der Impulskontrolle. Er erhielt über Jahre Grundsicherung nach dem SGB XII. Als seine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen im 09 2024 endete, stellte das Sozialamt die Leistungen von einem Tag auf den anderen ein. Die Begründung lautete, es sei unklar, ob weiterhin volle Erwerbsminderung vorliege. Bis das geklärt sei, müsse der Betroffene nach § 8 SGB II als erwerbsfähig gelten. Daraus folge, dass das Jobcenter zuständig sei.


Das Sozialamt leitete den Antrag aber weder nach § 16 Abs. 2 SGB I weiter, noch leitete es das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsminderung nach § 45 SGB XII ein. Es stellte einfach die Zahlung ein. Das Jobcenter lehnte seinerseits ab, weil angeblich Unterlagen fehlten. Damit war der Betroffene ohne Leistungen, obwohl sein Betreuer sämtliche Anträge gestellt hatte. Er wurde privat mitversorgt, was später im Verfahren eine Rolle spielte.


Das Sozialgericht stellt klar: Bereits die Kenntnis, dass der Antragsteller existenzsichernde Leistungen benötigt, verpflichtet den erstangegangenen Träger zur Zahlung nach § 43 Abs. 1 SGB I. Wenn zwei Träger streiten, wer zuständig ist, muss derjenige zahlen, bei dem der Antrag gestellt wurde. Es genügt, dass die Leistungen inhaltlich im Wesentlichen identisch sind. Bei SGB II und SGB XII ist das der Fall. Beide Systeme sind Referenzsysteme der Grundsicherung. Der erstangegangene Träger bleibt daher zahlungspflichtig, bis der andere Träger tatsächlich übernimmt. Ein bloßer Hinweis, man sei nicht zuständig, reicht nicht aus. Die Behörde muss entweder zahlen oder weiterleiten. Das Unterlassen der Weiterleitung verstößt gegen § 16 SGB I. Auch die Prüfung der Erwerbsminderung hätte nach § 45 SGB XII eingeleitet werden müssen. Existenzsicherung bedeutet, dass Ermessen entfällt. Der Staat muss zahlen.


Die offenkundige Nichterwerbsfähigkeit des Antragstellers verstärkte diese Pflicht zusätzlich. Er hatte über Jahre Leistungen nach dem SGB XII erhalten und in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. Das sind deutliche Indizien für volle Erwerbsminderung.


Im Eilverfahren stellte sich schließlich die Frage der Eilbedürftigkeit. Der Einwand, der Betroffene werde privat mitversorgt, überzeugte das Gericht nicht. Der entscheidende Satz lautet sinngemäß: Güte und Mitmenschlichkeit ersetzen nicht die Pflicht des Staates, in Notsituationen bestehende Leistungsansprüche zu erfüllen. Auch private Unterstützung hebt die Eilbedürftigkeit nicht auf. Die Entscheidung ist eindeutig, klar zitierbar und bietet eine sichere Grundlage, um Leistungsträger zur Zahlung zu verpflichten, wenn sie sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben.

  • Thema: Zahlungspflicht des erstangegangenen Trägers bei ungeklärter Erwerbsfähigkeit
  • Rechtsgrundlagen: § 43 SGB I, § 16 SGB I, § 2 Abs. 3 SGB X analog, § 45 SGB XII, § 8 SGB II
  • Kernaussage: Existenzsichernde Leistungen dürfen nicht unterbrochen werden. Der erstangegangene Träger bleibt zahlungspflichtig, bis der andere Träger die Leistung tatsächlich übernimmt.

 

Praxis-Tipps:

  • Weiterleitung des Antrags verlangen und dokumentieren
  • Zahlungspflicht aus § 43 SGB I geltend machen
  • Prüfung der Erwerbsminderung anstoßen
  • Leistungsunterbrechungen sofort angreifen
  • Eilverfahren nutzen, wenn das Existenzminimum gefährdet ist
  • Schriftliche Entscheidungen konsequent einfordern

 

Weiterführend:

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