Podcast

Folge 213 Abweichung - Wenn Pauschalen im SG XII nicht ausreichen

In dieser Folge wird § 27 Abs. 4 SGB XII umfassend erklärt und von den klassischen Mehrbedarfszuschlägen abgegrenzt. Es wird aufgezeigt, wie Betreuer:innen individuelle Bedarfe jenseits der Regelbedarfe erkennen und geltend machen können. Anhand zahlreicher Praxisbeispiele wird veranschaulicht, wann und wie eine abweichende Festsetzung des Regelbedarfs möglich ist.

Werde Teil des betroyt campus

ca.betroyt.de

Dein Mentorenprogramm für den Start
startrampe.betroyt.de

Ab Mai mit interessanten Inhalten:

Folge bereits jetzt betroyt | wissen auf Instagram und YouTube
Instagram
Youtube

Einführung in § 27 Abs. 4 SGB XII
In dieser Folge des betroyt-Podcasts widmet sich Roy Lippert einer wenig bekannten, aber äußerst wirkungsvollen Vorschrift im Sozialhilferecht: § 27 Absatz 4 SGB XII. Hinter dieser unscheinbaren Nummer verbirgt sich ein rechtliches Instrument, das für viele betreute Menschen einen echten Unterschied machen kann – denn es ermöglicht, die starren Regelbedarfe individuell zu durchbrechen. Die Pauschalen der Sozialhilfe decken zwar den Durchschnittsbedarf der Bevölkerung ab, doch in der Betreuungspraxis zeigt sich regelmäßig: Der Alltag vieler Menschen weicht erheblich von diesen Standards ab – sei es durch gesundheitliche Einschränkungen, technische Hilfsmittel oder besondere Lebenssituationen. Genau hier setzt § 27 Abs. 4 an. Diese Norm erlaubt, den Regelbedarf nach unten oder oben abweichend festzusetzen, wenn der Bedarf bereits anderweitig gedeckt ist oder die tatsächlichen Lebensverhältnisse erheblich vom Regelsatz abweichen.

Warum braucht es diese Norm?
Die Berechnung der Sozialhilfe erfolgt auf Grundlage der sogenannten Regelbedarfe. Diese enthalten Pauschalen für Ernährung, Kleidung, Energie, Hausrat, Körperpflege, Kommunikation und weitere Grundbedürfnisse. Sie werden jährlich angepasst und sollen für die „typische Bedarfslage“ einer bestimmten Bezugsgruppe ausreichen. Doch was passiert, wenn diese Pauschalen im konkreten Einzelfall nicht reichen – etwa wenn eine Person auf glutenfreie Ernährung angewiesen ist, die deutlich teurer ist, oder wenn der Stromverbrauch aufgrund eines häuslichen Beatmungsgeräts extrem hoch ausfällt? Auch Lebenssituationen, in denen ein erhöhtes Maß an Hygieneprodukten erforderlich ist oder Kommunikationsmittel zur Teilhabe an der Gesellschaft notwendig werden, fallen regelmäßig aus dem Raster der Pauschalen.
Hinzu kommen Fälle, in denen der Bedarf bereits durch eine andere Stelle gedeckt wird, etwa bei vollstationärer Unterbringung, sodass eine doppelte Leistung durch die Regelbedarfe erfolgt. Besonders heikel sind auch Konstellationen, in denen es unklare Zuständigkeiten zwischen Sozialamt, Krankenkasse, Pflegeversicherung oder Eingliederungshilfe gibt – und am Ende niemand leistet, obwohl ein klarer Bedarf vorliegt. Genau in diesen Konstellationen greift § 27 Abs. 4 SGB XII. Er ist als Einzelfallregelung ausgestaltet und wurde insbesondere deshalb eingeführt, weil das Bundesverfassungsgericht 2010 betonte, dass das soziokulturelle Existenzminimum nicht nur statistisch, sondern real gesichert sein muss. Es genügt eben nicht, dass die Mehrheit der Menschen mit einem Regelsatz auskommt – die Ausnahme muss ebenso beachtet werden.

Abgrenzung zum Mehrbedarfszuschlag (§ 30 SGB XII)
Häufig wird § 27 Abs. 4 mit dem ebenfalls im SGB XII geregelten § 30 verwechselt, der die sogenannten Mehrbedarfszuschläge enthält. Dabei unterscheiden sich die beiden Regelungen in ihrer Systematik erheblich. § 30 betrifft klar definierte, standardisierte Zuschläge, etwa bei Schwangerschaft, bei alleiniger Erziehung von Kindern, bei kostenaufwändiger Ernährung im Rahmen bestimmter Krankheiten, bei bestimmten Behinderungen mit Merkzeichen oder bei dezentraler Warmwasserbereitung. Diese Zuschläge werden pauschal gewährt, sobald die jeweiligen gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, und erfordern keine weitere Einzelfallprüfung. Im Gegensatz dazu ist § 27 Abs. 4 eine echte Ermessensnorm. Sie greift nicht bei klar geregelten typischen Bedarfssituationen, sondern dann, wenn der individuelle Bedarf nicht anderweitig anerkannt ist, aber dennoch eine erhebliche Abweichung vom Regelsatz vorliegt.
Ein gutes Beispiel für diese Abgrenzung ist die glutenfreie Ernährung bei Zöliakie. Steht diese nicht auf der offiziellen Krankenkostliste, kann der Zuschlag nach § 30 nicht greifen – wohl aber ein individueller Anspruch über § 27 Abs. 4, wenn eine ärztliche Begründung vorliegt. Auch bei technischen Hilfsmitteln wie Heimbeatmungsgeräten übernimmt die Krankenkasse zwar das Gerät, aber nicht die laufenden Stromkosten. Hier greift ebenfalls § 27 Abs. 4, sofern die erhöhten Kosten nachgewiesen werden. Bei Inkontinenz ohne Pflegegrad besteht kein Anspruch auf Pflegehilfsmittel, doch das Sozialamt kann im Rahmen des § 27 Abs. 4 zusätzliche Mittel gewähren, wenn das Wäscheaufkommen deutlich erhöht ist. Ähnliches gilt bei Kommunikationsbedarfen: Kann eine hörgeschädigte Person nicht über die Eingliederungshilfe versorgt werden, aber ist auf ein modernes Smartphone mit Datenpaket angewiesen, um etwa über Messenger oder Videosprechstunden mit Behörden und Ärzten zu kommunizieren, kann auch das über § 27 Abs. 4 gesichert werden.
Auch bei therapeutisch notwendiger Haustierhaltung ist kein klassischer Mehrbedarfszuschlag vorgesehen. Mit entsprechender medizinischer Begründung, etwa bei psychosozialer Stabilisierung durch ein Tier, kann jedoch ein Bedarf nach § 27 Abs. 4 anerkannt werden. Das Gleiche gilt bei Erwachsenen in Alphabetisierungskursen, für die Schulmaterialien gebraucht werden – da das Bildungspaket nur für Kinder und Jugendliche bis 25 greift, ist hier ebenfalls ein abweichender Regelbedarf denkbar. Nicht zuletzt ist auch an Spezialkleidung bei körperlichen Besonderheiten oder an barrierefreie Kommunikation für sehbehinderte Menschen zu denken, die zwar nicht in das klassische Hilfsmittelsystem passen, aber individuell unerlässlich sind.

So beantragen rechtliche Betreuer richtig
Für rechtliche Betreuerinnen und Betreuer ergibt sich aus dieser Norm ein wirksames Werkzeug – allerdings muss man wissen, wie man es anwendet. Zunächst gilt es, den Bedarf sauber zu identifizieren: Es reicht nicht, pauschal zu sagen, dass „etwas mehr“ gebraucht wird. Es braucht eine klare Feststellung dessen, was konkret fehlt. Danach sollte geprüft werden, ob eine andere Leistung bereits gewährt wird oder zuständig wäre – etwa über die Pflegeversicherung, die Krankenkasse oder die Eingliederungshilfe. Wird dort der Bedarf abgelehnt oder nicht gedeckt, ist der Weg über § 27 Abs. 4 frei. Wichtig ist dann, alle relevanten Nachweise zu sammeln – ärztliche Bescheinigungen, Fotos, Quittungen, Preisvergleiche oder Verbrauchsabrechnungen.
Bei der Antragstellung sollte die Begründung nicht aus vorgefertigten Textbausteinen bestehen, sondern konkret auf die betreute Person eingehen. Im besten Fall legt man eine kurze Bedarfsschilderung bei. Wird der Antrag abgelehnt, ist zu prüfen, ob das Sozialamt eine echte Ermessensentscheidung getroffen hat. Eine bloße Ablehnung ohne Begründung reicht nicht – das Ermessen muss erkennbar ausgeübt werden. Ist das nicht der Fall, lohnt sich ein Widerspruch. Denn § 27 Abs. 4 ist kein Gnadenrecht, sondern eine gesetzlich verankerte Ermessenspflicht.
  1. Folge 50: Vermögen (II) – Ein kurzer Überblick zum Einwilligungsvorbehalt
    In dieser Episode wird der Einwilligungsvorbehalt im Kontext der Vermögenssorge erläutert. Es wird erklärt, wie dieser dazu dient, Betreute vor finanziellen Fehlentscheidungen zu schützen und welche rechtlichen Rahmenbedingungen dabei zu beachten sind.
  2. Folge 187: Vergütungsreform – Herausforderung durch die Reform des VBVG
    In dieser Episode wird der aktuelle Entwurf zur Novellierung des Vormundschafts- und Betreuervergütungsgesetzes (VBVG) besprochen. Die geplanten Änderungen und deren potenzielle Auswirkungen auf Berufsbetreuer werden detailliert analysiert.
  3. Folge 189: Streik – Vergütungsreform ohne Zukunft
    Diese Folge beleuchtet den geplanten Streik rechtlicher Betreuer aufgrund der unzureichenden Vergütungsreform. Es wird aufgezeigt, wie Betreuer durch die neuen Regelungen finanziell benachteiligt werden, und mögliche Auswirkungen auf das Betreuungswesen werden diskutiert.

Den betroyt Podcast unterwegs genießen:

🚀 Startrampe – Das Mentorenprogramm für angehende rechtliche Betreuer! 🚀

Du möchtest als rechtlicher Betreuer durchstarten, aber dir fehlt die richtige Unterstützung? Startrampe begleitet dich 12 Monate lang mit praxisnahen Strategien und wertvollem Wissen. Bekomme das, was in den Sachkundelehrgängen meist fehlt: Die Praxis!

Schritt-für-Schritt Begleitung für einen erfolgreichen Einstieg
Austausch mit Experten und anderen Betreuern
Praxisnahes Wissen zu Aufgabenkreisen, Gesetzen & Organisation

Melde dich jetzt an und sichere dir jetzt deinen Platz!
➡️ startrampe.betroyt.de